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Gesundheitstipp 4/2002
01.04.2002
65 Prozent der Kinder tragen zu kurze Strassenschuhe. Und 80 Prozent zu kurze Finken. Dies ist das erschreckende Resultat einer Studie. Ein Team der Universitätsklinik Balgrist und ein österreichischer Spezialist haben sie im Auftrag des Puls-Tipp durchgeführt.
Thomas Grether thgrether@pulstipp.ch
Gerade sind die Kinder noch im Halbkreis gesessen. Doch jetzt tollen sie ausgelassen herum, hüpfen und rufen, schauen sich neugierig gegenseitig über die Schulter. Sc...
65 Prozent der Kinder tragen zu kurze Strassenschuhe. Und 80 Prozent zu kurze Finken. Dies ist das erschreckende Resultat einer Studie. Ein Team der Universitätsklinik Balgrist und ein österreichischer Spezialist haben sie im Auftrag des Puls-Tipp durchgeführt.
Thomas Grether thgrether@pulstipp.ch
Gerade sind die Kinder noch im Halbkreis gesessen. Doch jetzt tollen sie ausgelassen herum, hüpfen und rufen, schauen sich neugierig gegenseitig über die Schulter. Schuhe hier, Socken dort, Kinderfüsse überall. «Ich habe meine Füsse heute Morgen extra gewaschen», verkündet ein fünfjähriger Blondschopf und lacht.
Die Aufregung im Kindergarten «Alpenblick» in Gossau ZH hat ihren Grund: Das Puls-Tipp-Team ist gekommen, um die Füsse und Schuhe der Kinder ausmessen zu lassen. Und zwar exakt, auf den Millimeter genau. Diese Fussmess-Studie führen kompetente Fachleute durch: Der österreichische Fuss-Spezialist und Sportwissenschaftler Wieland Kinz aus Salzburg sowie ein erfahrenes Ärzte-Team der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich.
Sie alle vermessen an diesem Tag Anfang März die Füsse und Schuhe von 68 Kindern in vier verschiedenen Kindergärten. Zentrale Frage: Wie viele der Dreikäsehochs tragen zu kurze Schuhe und schädigen so womöglich ihre sensiblen Füsse?
Das Resultat dieser in der Schweiz erstmals durchgeführten Studie ist drastisch ausgefallen:
- Strassenschuhe: Von 68 Kindern trugen 44 zu kurze Strassenschuhe. Nur 16 Kinder trugen passende Schuhe.
- Hausschuhe: Von 68 Kindern trugen 54 zu kurze Finken. Nur 11 Kinder trugen passende Finken.
Das heisst: 65 Prozent der Kinder trugen zu kurze Strassenschuhe, sogar 80 Prozent zu kurze Finken. Das Resultat der Studie sei «eindrücklich» und «aufrüttelnd», sagt Thomas Böni, leitender Arzt der Technischen Orthopädie der Klinik Balgrist. «Es zeigt, dass dem Thema Kinderfüsse viel zu wenig Beachtung geschenkt wird.»
Finkli fünf Nummern zu klein: Kinder spüren nichts
Manche Kinder stecken ihre Füsse in eigentliche Schraubzwingen: Bei einem Kind waren die Strassenschuhe um vier Nummern, bei einem anderen die Finken gar um fünf Nummern zu klein! Das sind umgerechnet vier Zentimeter, die dem Fuss fehlen, damit er sich strecken kann.
Warum aber, so fragt man sich, pferchen Kinder ihre Füsse - ohne aufzumucken - in so kleine Schuhe? «Die Kinder spüren nicht, dass der Schuh drückt, weil das Nervensystem im Fuss noch nicht vollständig ausgebildet ist», erklärt Balgrist-Arzt Thomas Böni. «Kinder ziehen die Zehen ein wie Schnecken ihre Fühler.» Ausserdem sei ein Kinderfuss weich und biegsam. «Erst mit den Jahren entwickeln sich aus weichen Knorpeln harte Knochen, die mehr Widerstand bieten.»
Wenn die «gummigen» Füsschen nur vorübergehend zu kleine Schuhe ertragen müssen, hat das keine schlimmen Folgen. Auf Dauer jedoch und über mehrere Entwicklungsphasen hinweg können sie die Füsse schädigen. Sportwissenschaftler Wieland Kinz: «Früher deformierten Krankheiten und Unterernährung die Kinderfüsse. Heute sind es Schuhe, die nicht passen.»
Laut Spezialist Kinz, der im Auftrag der österreichischen Regierung Kinderfüsse vermisst, kommen 98 Prozent der Menschen mit gesunden Füssen auf die Welt. «Zu kleine Schuhe führen aber dazu, dass 60 Prozent als Erwachsene geschädigte Füsse haben.»
Einige Beschwerden können bereits bei Kindern entstehen:
- Es bilden sich Hammerzehen, weil das Kind die Zehen ständig einkrallen muss. Sie zeigen statt geradeaus in den Boden hinein. Auf den Kuppen bildet sich Hornhaut.
- Es entstehen Ansätze zu einem Hallux - speziell bei Kindern, die erblich vorbelastet sind: Die grosse Zehe zeigt dabei schief nach innen, ein Überbein entsteht.
- Die Gelenke können sich entzünden, weil der Schuh die Zehen verschiebt. Dadurch verändert sich auch die natürliche Zugrichtung der Muskeln. Folge: Muskel- und Sehnenschmerzen. Zudem können sich die Fussmuskeln verkürzen.
- Drückende Schuhe beeinträchtigen die Blutgefässe im Fuss. Die gestörte Durchblutung führt zu Kälte- und Taubheits-Gefühlen.
Laut Kinz leidet der gesamte Organismus, wenn Schuhe die Füsse quälen. «Die Statik des Körpers verändert sich, es können Knie-, Hüft- und Rückenschmerzen entstehen.» Mediziner führen sogar Migräne bei manchen Kindern auf zu kleine Schuhe zurück. Solche Schäden zu vermeiden liegt vor allem in der Verantwortung der Eltern. Sie sollten regelmässig überprüfen, ob die Füsse ihrer Sprösslinge noch in die Schuhe passen: Bei 1- bis 3-Jährigen alle zwei Monate, bei 3- bis 4-Jährigen alle vier Monate, bei Älteren zweimal pro Jahr. Das gilt auch für Finken.
So können Sie erkennen, ob die Schuhe noch passen:
- Stellen Sie Ihr Kind barfuss auf ein Stück Karton. Zeichnen Sie mit einem Filzstift den Umriss von beiden Füssen nach.
- Dann fügen Sie bei der längsten Zehe 12 Millimeter hinzu. Dies ist der Freiraum, den ein Fuss vorne -in der so genannten Zehenbox - mindestens braucht. Runden Sie mit dem Filzstift von diesem Punkt aus die Fussskizzen ab und schneiden Sie die Schablonen aus.
- Stecken Sie die Schablonen in die Schuhe. Jetzt sehen Sie sofort, ob die Füsse noch genügend Platz haben.
Die Schablonen leisten auch beim Schuhkauf wertvolle Dienste. Neue Schuhe, und das mehrmals pro Jahr, können ins Geld gehen. Es lohnt sich deshalb, befreundete Familien nach gebrauchten Schuhen zu fragen. Oder in der Kinderkleiderbörse vorbeizuschauen. «Kinder können gebrauchte Schuhe problemlos nachtragen, sofern sie nicht völlig ausgelatscht sind», sagt Orthopäde Böni.
Die teure Variante ist der Einkauf im Schuh-Fachgeschäft. Doch ist eine kompetente Beratung nicht immer gewährleistet, wie die Erfahrung der zweifachen Mutter Johanna Grieder aus Baden AG zeigt: «Die Verkäuferin drückte mit dem Daumen auf den Schuhen meiner Tochter herum. Ein Messgerät hatte sie nicht. Erst zu Hause merkte ich, dass die Schuhe viel zu klein sind.»
Laut Beatrix Haller, Zentralsekretärin des Schweizerischen Schuhhändler-Verbands (SSV) genügt die Daumenprobe nicht. «Das Kind zieht seine Zehen reflexartig zurück, wenn von oben Druck kommt.» Viele Schuhe seien vorne verstärkt, weshalb die Verkäuferin die grosse Zehe gar nicht zuverlässig spüre. Beatrix Haller rät: «Fragen Sie unbedingt nach einem Messgerät.»
Doch einige Schuhgeschäfte verfügen nicht einmal über einfachste Messschieber. Und laut Haller haben nur wenige der 650 Verbands-Mitglieder das so genannte WMS-System, ein Gerät, das auch die Breite des Fusses zuverlässig ausmisst. Die verschiedenen Messgeräte zeigen auf einer Skala die passende Schuhgrösse an. Allerdings orientieren sich nicht alle Schuhhersteller nach dieser Norm, weshalb die gemessene Grösse nicht für alle Schuhe gilt.
Zu harte Schuhe können kleinen Füssen ebenfalls arg zusetzen. Im Handel tauchen immer wieder zu steife Modelle auf. Die Hersteller machen aus Erwachsenenschuhen - mit ähnlichem oder gleichem Material - Kinderschuhe. «Das ist», sagt Alex Stacoff vom Labor für Biomechanik der ETH Zürich, «als würde man aus einem langen ein kurzes Lineal machen: Das lange lässt sich leicht biegen, das kurze kaum noch.» Laut Stacoff fehlt dem Kinderfuss die Kraft, um sich gegen die starre Schuhhülle durchzusetzen. Am besten seien Schuhe, die sich von Hand leicht falten und knautschen lassen.
Spezielles Fussbett oder Einlagen sind nicht nötig
Ideal ist Barfussgehen. Auch wenn manche Eltern ihren Augen nicht trauen, sobald ihr Kind die ersten Schritte macht: Die Füsse ihres Sprösslings patschen abgeknickt oder platt über den Boden. Carol Hasler, leitender Arzt an der Kinderorthopädie-Klinik Basel, beruhigt: «Ein Knick-Senk-Fuss ist bei Kindern völlig natürlich.» Grund: Das Bindegewebe von Kinderfüssen ist sehr elastisch. Erst im Alter von 16 Jahren ist ein Fuss voll entwickelt. Hasler bezeichnet die frühere Sitte, Einlagen zu verordnen, als «Irrweg». Gesunde Kinderfüsse brauchen weder ein spezielles Fussbett noch Einlagen. Vielmehr sei Barfusslaufen angesagt.
Weshalb also nicht wieder einmal barfuss in die Natur hinaus und Steine oder Äste unter der Sohle spüren? Oder zu Hause Socken mit Gummi-Noppen tragen?
Barfussgehen fördert Kraft, Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Füsse. «Der Fuss lernt, die Unterlage zu lesen, und aktiviert die entsprechenden Muskeln», erklärt Carol Hasler. Daran halten sich Naturvölker in Afrika und Australien: Bei ihnen kommen deformierte Füsse kaum vor.
Die richtigen Schuhe für Ihr Kind
- Schuhe sind erst nötig, wenn das Kind gehen kann.
- Kinder können auch gebrauchte Schuhe tragen. Sie dürfen aber nicht ausgelatscht sein.
- Kaufen Sie Schuhe am Nachmittag - Füsse wachsen im Verlauf des Tages.
- Neue Schuhe sollten innen 12 mm länger sein als der Fuss.
- Fragen Sie nach einem Messgerät. Sehr gut, aber wenig verbreitet ist die WMS-Messung. Folgende Hersteller halten sich an die WMS-Norm: Bause, Däumling, Der kleine Muck, Elefanten, Freudenberg, Hummel, Legero, Ricosta, Salamander.
- Erkundigen Sie sich, ob verschiedene Weiten eines Schuhmodells am Lager sind. Denn der Schuh muss sich auch der Breite des Fusses anpassen.
- Weiche, biegsame und atmungsaktive Schuhe wählen. Geformte Einlagesohlen oder ein spezielles Fussbett sind unnötig.
- Lassen Sie Ihre Kinder möglichst oft barfuss herumtollen, zu Hause und im Freien.
Wissenswertes rund um Kinderfüsse
- Jetzt gibt es das erste Buch, das alles Wissenswerte rund um die kleinen Füsse anschaulich erklärt. Verfasst hat es der österreichische Sportwissenschaftler Wieland Kinz. Im Buchhandel ist «Kinderfüsse - Kinderschuhe» für Fr. 12.- erhältlich. Zum gleichen Preis, inklusive Versandkosten, können Puls-Tipp-Leser das Buch direkt beim Autor bestellen:
Wieland Kinz, Postfach 26 A-5034 Salzburg E-Mail: wieland.kinz@sbg.ac.at